© Markus Mittasch

Via Ferrata Centenario auf den Monte Grona (1736 m)

Schwerer Klettersteig in der Nähe des Comer Sees

11.03.2023

In Nachbarschaft zum Comer See kann - wer früh aufsteht - einsam den 1985 eröffneten 380 m langen Klettersteig (Schwierigkeit D) begehen. Nach zwei Stunden Kletterei erreicht man das Gipfelkreuzes des Monte Grona (1736 m) und kann bei guter Fernsicht das Monte Rosa Massiv mit dem markante Gipfelaufbau des Matterhorns erblicken. Wer Glück hat dem begegnen auch Hirsche am Wegesrand.

Mit einem dumpfen Geräusch fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Dunkelheit umgibt mich. Die Temperatur von +6˚C und ein leichter Wind lassen mich frösteln. Ich stehe alleine auf der Terrasse unseres einsam gelegenen Ferienhauses in Monte di Breglia auf knapp 1000 m Meereshöhe hoch über dem Comer See. Es ist Dienstag, der 22. September 2022,  kurz vor sechs Uhr morgens. Ich starte die GPS-Uhr am Handgelenk, schalte meine Stirnlampe an und folge dem schmalen, steilen Bergpfad aufwärts, der direkt am Grundstück vorbeiführt, hinein in den Wald. Der Lichtstrahl hüpft von Baumstamm zu Baumstamm durch das Schwarz der Nacht. Nach einiger Zeit höre ich ein lautes Rascheln und Knacken im Unterholz direkt neben mir, kann aber nichts erkennen und ein markerschütternder, tiefer, klagender Ton durchdringt die Stille. Ich fühle mich fast wie in einem Horror-Filmset – weiß aber, dass jetzt im Herbst Hirschbrunftzeit ist. Ich versuche, gelassen zu bleiben, hoffe allerdings, dass der Hirsch so intelligent ist, mich nicht als einen potentiellen Rivalen zu betrachten.

Einige 100 Höhenmeter später, ich befinde mich jetzt oberhalb der Baumgrenze, blinzeln die ersten Sonnenstrahlen des Tages über die Berggipfel und tauchen Felsen und Grashänge in warmes, goldenes Licht. Ich bin mir sicher, dass das Wetter heute gut werden wird, denn ich habe natürlich die Wettervorhersage (um genau zu sein, mehrere unterschiedliche Vorhersagen, u.a. vom DAV) gecheckt. Der Steig führt mich am Rifugio Menaggio (1383 m) vorbei, welches an Wochenenden ein sehr beliebtes Ausflugziel ist. Um diese frühe Uhrzeit ist allerdings kein einziger Mensch zu sehen. Ich
wandere weiter Richtung Westen und stehe bald am Einstieg der Via Ferrata del Centenario C.A.O.

Der Klettersteig wurde 1985 zum 100. Jahrestag der Gründung des Club Alpino Operaio mit Sitz in Como eingeweiht. Übersetzt bedeutet das sinngemäß „Der Jahrhundert-Klettersteig des Arbeiter Alpenvereins“. Heute ist der C.A.O. Teil des Club Alpino Italiona (C.A.I.), des nationalen italienischen Alpenvereins. Die Sicherungen des Steigs wurden vor einigen Jahren vollständig saniert und sind in sehr gutem Zustand. Die 380 m Kletterei, die zwischen Ein- und Ausstieg liegen, sind mit Ausnahme weniger Gehpassagen vollständig versichert. Der Schwierigkeitsgrad der Ferrata wird mit „D“ („schwierig“/„sehr schwierig“) bewertet. Stahlstifte und Spangen als Tritthilfe sind sehr sparsam angebracht. Kurios und für mich ungewohnt ist die Seilsicherung verbaut. Das kunststoffummantelte Stahlseil ist nicht, wie meist üblich, straff zwischen den jeweiligen Fixpunkten gespannt, sondern hängt locker mit viel Schlappseil durch. Parallel dazu ist eine grobgliedrige Stahlkette angebracht, die als griffige Aufstiegshilfe dient.

Es ist kurz vor 8.00 Uhr, Helm und Klettersteigset habe ich angelegt und hänge den ersten Karabiner ins Sicherungsseil ein – eine kindliche Vorfreude steigt in mir auf. Ich versuche konzentriert und locker zu bleiben, weil ich weiß, dass ich als Alleingänger besser keinen „Durchhänger“ haben sollte. Stichwort: „Risiko-Management“: Tags zuvor habe ich alle relevanten Einzelheiten meiner geplanten Bergtour (Routen-Verlauf, Zeitmanagement, inklusive „Dead-line-Zeiten“, Wetter, Handy-Empfang etc.) mit meiner Frau besprochen, damit ich im Falle eines Falles lokalisiert werden kann. Einige Tage vorher, habe ich mich beim Hüttenwirt über den aktuellen Zustand des Klettersteigs informiert.

Die Ferrata führt fast senkrecht aufwärts auf den ersten von insgesamt vier Pfeilern. Nach einem kurzen Band folgt ein Überhang und später ein markanter Spalt. Im gesamten Verlauf gibt es zwei Möglichkeiten bei Bedarf über Fluchtwege den Klettersteig in östlicher Richtung zu verlassen. Nach etwa einer Stunde Kletterei, ich befinde mich jetzt etwas oberhalb des zweiten Pfeilers auf einem Sattel, gönne ich mir eine Frühstückspause mit Müsliriegel und Wasser. Ich bestaune die „Drei-Seen-Aussicht“ auf Comer See, den kleinen Lago di Piano und Luganer See. Die Schlüsselstelle des Steigs befindet sich knapp unterhalb des zweiten Notausstiegs. Es ist eine ca. 15 Meter nach links zu querende glatte Felsplatte, die, wie ich aus meiner Internet-Recherche erfahren habe, zu einigen Problemen führen kann.

Nach etwas mehr als zwei Stunden Kletterei erreiche ich mein Ziel. Der Ausstieg liegt spektakulär direkt unterhalb des Gipfelkreuzes des Monte Grona (1736 m). Die Fernsicht ist optimal und beträgt mehr als 100 km.
Durch mein Fernglas kann ich weit im Westen das Monte Rosa Massiv erblicken und selbst der markante Gipfelaufbau des Matterhorns ist deutlich auszumachen. Ich bin beeindruckt. Erst nach etwa einer ¾ Stunde allein auf dem Gipfel gesellt sich ein italienischer Einzelwanderer zu mir, er ist der erste Mensch den ich heute sehe.

Über die sogenannte „Direttissima“, einem Steig parallel zur Kletterstrecke, steige ich wieder ab, gönne mir ein italienisches Bier im Rifugio Menaggio und feiere die Berge, den Tag und das Leben. Am frühen Nachmittag erreiche ich wieder unser Ferienhaus und schließe meine Frau wohlbehalten und zufrieden in die Arme.

Markus Mittasch