© Stripsenjochhaus / Oliver Knorre
© Predigtstuhl, Fleischbank, Totenkirchl / Oliver Knorre
© Oliver Knorre

Wilder Kaiser

Markus Mittasch

23.07.2021

„In der Herrschaft Khuffstain ist der Khaiser ein sehr hoches Gepürg, so ainer kaiserlichen Cron gleich ist“ – dies schreibt der Kartograf Mathias Burgklehner im 17. Jahrhundert und schafft somit die erste urkundliche Erwähnung des Kaisergebirges, jenes Gebirgsstocks in Tirol, der dieses Jahr Ziel unserer Klettersteigwoche sein soll.

Claudia aus Düsseldorf und ich, Markus aus Duisburg haben uns die Woche vom 17. bis 23. Juli 2021 frei genommen, um in die von uns geliebten Berge zu fahren. Samstagnachmittag erreichen wir Kufstein, parken unser Auto, ziehen uns wetterfest an und steigen im Regen die knapp 900 Hm zur Kaindl Hütte (1293 m) auf.

Am anderen Morgen, es hat die ganze Nacht heftig durchgeregnet, erklärt uns die Hüttenwirtin: „Der Hüttenzustieg und damit die Versorgung der gesamten Steinbergalm ist aufgrund von Murenabgängen in der Nacht unterbrochen worden.“ Im Tal war der Inn über die Ufer getreten und hat die Innenstadt Kufsteins überflutet. Weil der Wetterbericht auch für Sonntag Dauerregen vorhersagt und die Sichtweite bei unter 100 Metern liegt, ändern wir unseren Tagesplan. Wir verzichten auf den Widauer-Klettersteig, der uns auf den Gipfel des Scheffauers (2111 m) bringen sollte und wählen stattdessen die Wanderwegvariante über Waller-, Steiner- und KaiserHochalm hin zur Grutten Hütte (1620 m).

Wir dürfen an diesem Tag eine spezielle Naturerfahrung machen und zwar sämtliche uns bekannten Niederschlagsarten, bis auf Hagel und Schneefall, am eigenen Körper erfahren: leichter Nieselregen, mittlerer bis starker Regen, Regen bei Wind, Regen bei Windstille, Starkregen, bis hin zur „Dusche“ – aber immer Dauerregen. Nach 15,2 km Wegstrecke sind wir froh, uns im modernen Trockenraum der Grutten Hütte umziehen zu können. Falls denn, wie der Volksmund sagt, Petrus für das Wetter verantwortlich ist, so hat er mit uns von nun an Erbarmen, will heißen, wir tauschen die Regenbekleidung gegen Sonnencreme bis ans Ende unserer Bergwoche.

Am nächsten Tag können wird endlich mit dem bereits 1925 errichteten Jubiläumssteig unseren ersten Klettersteig in Angriff nehmen. Wir genießen das so typische metallische Geräusch der zuschnappenden Karabinerhaken und das anschließende Ziehen der Haken über das Sicherungsdrahtseil. Dies ist Musik in unseren Ohren, es hört sich so viel besser an, als prasselnder Regen. Wir halten uns nördlich und durchqueren das Ellmauer Tor (2006 m), jenen markanten U-förmigen Einschnitt im Wilden Kaiser Massiv.

Mit der Besteigung der Hinteren Goinger Halt (2192 m) können wir unseren ersten Gipfel der Tour erreichen. Anschließend durchqueren wir die Steinerne Rinne. Rechts von uns ragt die Westwand des Predigtstuhls, links von uns die teils überhängende Ostwand der Fleischbank empor, Wände an denen die moderne, extreme Felskletterei ihren Ursprung nahm. Namen wie Hans Dülfer, Herrmann Buhl und Stefan Glowacz sind untrennbar mit diesen Felsen verbunden.

Nachmittags erreichen wir unser Tagesziel, das Stripsenjoch Haus (1577 m), wo wir uns auf der aussichtreichen Sonnenterrasse einen Kaiserschmarrn gönnen. Tags darauf geht es über drei kurze 2008 errichtete Übungsklettersteige (Hundskopf-, Unterer und Oberer Stripsenkopf-Klettersteig) auf den Stripsenkopf (1807 m), einen der besten Aussichtspunkte für den östlichen Wilden Kaiser, um anschließend zu unserem Tagesziel dem Hans-Berger-Haus (936 m) abzusteigen.

Am Mittwoch steht die „Königsetappe“ unserer Klettersteigwoche auf dem Tourprogramm: Die Überschreitung der Ellmauer Halt (2344 m), dem höchsten Gipfel des Wilden Kaisers. Unser Weg führt uns durch den unteren Schärlinger Boden, den wir uns mit ca. zwei Dutzend Gämsen, viele davon Jungtiere, teilen, hin zum Einstieg des 1987 eingeweihten Kaiserschützen-Klettersteigs. Der Steig wird mit dem Schwierigkeitsgrad B/C und in den teils langen freien Gehpassagen im Schrofengelände mit 1+ bewertet.

Nachdem wir die „grüne Rinne“ durchstiegen haben, kommen wir an einen Felsen mit zwei Hinweispfeilen (links: Kleine Halt, rechts Ellmauer Halt). Wir halten uns links und stehen nach etwa einer ¾ Stunde auf dem Gipfel der Kleinen Halt (2116 m). Nach einer kurzen Brotzeit mit toller Fernsicht, machen wir uns wieder auf den mit roten Farbpunkten gut markierten Weg hin zum Wegabzweig.

Wir sind gut gelaunt, unterhalten uns, achten auf die Wegmarkierungen und steigen Höhenmeter um Höhenmeter ab. Muss jetzt nicht bald der Wegabzweig Richtung Ellmauer Halt kommen? Es ist eine bergsteigerische Binsenweisheit, dass im Abstieg das gleiche Gelände anders aussieht als im Aufstieg. Warum haben wir uns nicht eine markante Geländestelle gemerkt oder noch einfacher, auf den Höhenmesser geschaut, um sich die Höhe des Abzweigs zu merken. Auch das wiederholte genaue Betrachten der AV-Wanderkarte im Maßstab 1:25 000 und des ausgedruckten KlettersteigTopos bringt keine eindeutige Klarheit in Bezug auf die Isohypsen-Darstellung des Wegabzweigs.

Erst am unteren Ende der „grünen Rinne“ wissen wir, wir sind zu tief. Genervt drehen wir um und steigen wieder auf… als erfahrene Bergwanderer und Klettersteiggeher hätten wir nicht gedacht, dass uns so ein „Verhauer“ passieren würde – aber Berge lehren Selbstreflektion, Bescheidenheit und Geduld. Wieder am Abzweig angelangt wird die Stelle von uns nochmal genau angesehen. Tatsächlich ist aus Sicht des Bergabgehers kein Hinweis (Steinmännchen, Stange etc.) zu erkennen gewesen. Erst am Nachmittag erreichen wir den Gipfel der Ellmauer Halt und können den Höhepunkt unserer Bergwoche feiern. Der Abstieg über den Gamsängersteig führt uns zur Grutten Hütte, die wir nach etwa 11 Stunden Bruttogehzeit, später als geplant, erreichen. Am Donnerstag geht es über Teile des Wilden Kaiser Steigs zurück zur Kaindl Hütte, den gleichen Weg, den wir vor vier Tagen im Dauerregen gingen – diesmal bei sprichwörtlichem „Kaiserwetter“. Wir entscheiden uns gegen die Option den verpassten Gipfel des Scheffauers nachzuholen, stattdessen für ein „Almhopping“ um die Tiroler Almkultur zu genießen. Wir trinken Dosen-Radler, das im Brunnen vor der unbewirtschafteten Kaiser Hochalm im Wasser gekühlt wird und bezahlen mit Münzeinwurf in eine Art Sparschwein.

Wir lauschen dem Harfenspiel und dem Gesang volkstümlicher Lieder des betagten Hüttenwirts und seiner Frau der Steiner Hochalm und essen auf der Waller Alm eine typische Tiroler Bretteljause. Der letzte Abend bringt noch eine Überraschung. Beim Stöbern im Bücherregal der Kaindl Hütte entdecken wir ein altes Exemplar, nehmen es heraus und blätterten behutsam darin. Es war ein Hüttenbuch aus den 1920er Jahren! Die kurzen Einträge lesen sich so, als wären sie erst vor ein paar Tagen und nicht vor etwa 100 Jahren geschrieben worden. Wir fühlen uns wie in einem Museum für Alpingeschichte.

Am nächsten Tag steigen wir nach Kufstein ab und treten die Heimreise an. Meine GPS-Uhr hält folgende Daten für die vergangene Woche fest: 69,6 km Wegstrecke, 5053 Hm bergauf, 41,41 Stunden Bruttogehzeit. Doch das ist reine Statistik – bleiben werden uns die Erinnerungen an unsere tollen Erlebnisse in Gedanken und Herzen. Wie lautet ein Zitat auf einem der Buchrücken in der Kaindl Hütte des Schriftstellers Samuel Johnson: „Der Sinn des Reisens besteht darin die Vorstellung mit der Wirklichkeit auszugleichen und anstatt zu denken, wie die Dinge sein könnten, sie so zu sehen, wie sie sind.“