Unter der 75-m-Verschneidung biwakieren wir auf einem kleinen Absatz. Ich hänge über der abschüssigen Kante so unbequem im Gurt, dass ich die Nacht kein Auge zubekomme. Dafür sehe ich viele Sternschnuppen. Um sechs Uhr geht‘s weiter. Die andere Seilschaft, die direkt über uns saß, startet vor uns. Da ich wegen meiner problematischen Zehen alles in Bergstiefeln klettern muss, bin ich froh, dass Seb die Verschneidung wieder in Kletterschuhen führt. Mit dafür schwererem Gepäck wuchte ich mich hinterher.
Unterhalb der grauen Platten übernehme ich wieder den Vorstieg. Die kommenden 5c-/6a-Stellen fühlen sich für mich deutlich sicherer an als die gleichbewerteten Risslängen zuvor. Da wir erst spät eine Chance sehen, die beiden über uns, die etwas langsamer klettern, zu überholen, kommen wir nicht so voran, wie wir es müssten. Auf dem grauen Turm angekommen schmelzen wir aufgrund unseres knappen Wasservorrats etwas Schnee und grübeln darüber, ob die Rinne vor uns schon der rote Kamin ist oder ob er sich weiter rechts in den Felsen befindet. Dort konnten wir ein paar Seillängen zuvor nämlich eine Seilschaft sehen. Es ist nun 15 Uhr. Unser Plan war, heute noch am Gipfel anzukommen und nach Italien abzusteigen. Aber es kommt anders.
Seb muss hinter zwei anderen Seilschaften enorm lange im steilen Hang warten, bis er an den nächsten Standplatz gehen kann. Sie sind sich auch unschlüssig, wo es langgeht. Als wir nach ihnen geradewegs in die Rinne über uns steigen und die hier oben nun hereinscheinende Nachmittagssonne die dünne Eisglasur zusehends antaut, ist mir im Vorstieg unwohl. Zwei weitere Seilschaften schließen von unten auf und versuchen es direkt unterhalb der Rinne nach links heraus ins Firnfeld. Ich seile mich ab und wir entscheiden uns, ebenfalls nach links in den schon weichen Firnhang zu steigen. Ein weiteres aufschließendes Pärchen bittet uns und die anderen Seilschaften wiederholt, hier doch Fixseile zu verlegen, an denen alle dann aufsteigen könnten.
Während Seb in den anschließenden, steilen Felsen den Weiterweg sucht, setzt bereits die Dämmerung ein. Wir entscheiden uns, drei Längen abzuseilen, um dort eine weitere Nacht zu biwakieren. Dass Seb an einem einzigen Klemmkeil von mir abgelassen werden will, setzt meinen aufgrund des Schlaf- und Wassermangels bereits etwas blank liegenden Nerven zu – der Keil erweist sich mir später aber auch als sicher.
Die Seilschaften aus der Rinne nebenan seilen ebenfalls ab. Das Verlangen, jetzt einfach gemütlich zuhause zu sein, ist riesig. Die nächtlichen Stadtlichter rund um den Genfer See machen das nicht besser. Am Biwakplatz kommen wir im Dunkeln an und wen treffen wir...!? Nils, der als Petzl-Mitarbeiter den Alpinkader unterstützt und auch schon als Bergführer während der Eiskletter-Sichtung geholfen hat. Es tut gut, ihn mit seiner ruhigen und immer freundlich zugewandten Art zu sehen. Um kurz nach Mitternacht essen wir unsere jeweils letzte Trek‘nEat-Mahlzeit und rutschen in die Schlafsäcke. Obwohl die kleine Schneekante meines Absatzes schon beim Hinsetzen wegbricht und ich die nächsten vier Stunden auf meine dünne, bergabdriftende Isomatte aufpassen muss, schlafe ich zumindest immer mal wieder ein paar Minuten ganz flach, bevor ich mich erneut drehe, damit das jeweilige Bein, das gerade stärker vom Gurt abgeschnürt ist, entlastet wird.
Am Morgen entscheidet sich die Zweierseilschaft, die am Vortag lange vor uns war, den kompletten Walkerpfeiler abzuseilen, da sie Sorge haben, noch eine Nacht ohne Essensreserven auf dem Gipfel verbringen zu müssen. Seb führt links über das Firnfeld hoch zu den Felsen, die uns dann schließlich nach rechts in den roten Kamin leiten. Diesen teils gruseligen Kamin steigt er mit unseren beiden Eisgeräten in einer eindrücklichen 60-m-Seillänge komplett durch. Gut gemacht! Seb ist im Modus.
Ich kämpfe mich demnach ohne Eisgeräte, aber dafür mit Rücklaufsperre an einem der zwei Halbseile hinterher. Nach einem weiteren Standplatz folgt noch eine vermeintliche 4c-Stelle, die sich mit einer dünnen Eisschicht überzogen nach allem anderen als 4c anfühlt. Ab dort ankommen wir in dem einfacher werdenden Gelände zügiger voran. Wir sind erleichtert und fallen uns in die Arme, als wir um 13 Uhr den Gipfel erreichen. Auf völliger Sparflamme an diesem Tag teilen wir uns kurz ein Tütchen PowerGel Shots, die gerade sehr gut schmecken. Vom Firnfeld der Pointe Walker geht es steil hinab nach Courmayeur. Durch den stark zerklüfteten Gletscher, auf dem Seb noch einbeinig in eine der riesigen Spalten einbricht, und über einige verblockte Rippen kommen wir nach etwas über vier Stunden am Rifugio Boccalatte an, wo uns ein überaus freundlicher Wirt empfängt. Nach einer kurzen Pause und einem netten Gespräch benötigen wir noch weitere 1,25 Stunden bis ins Tal. Wir sind froh, festen Grund unter den Füßen zu haben und grüne Wiesen und Bäume zu sehen. Was für eine Tour!
Am nächsten Morgen in Chamonix treffen wir die beiden, die nach der zweiten Nacht abgeseilt haben, zufällig auf dem Parkplatz der Montenvers-Zahnradbahn wieder. Sie waren erst abends um elf wieder unten, wobei wir schon um halb zehn dort waren, inklusive Rückfahrt durch den Mont-Blanc-Tunnel.
Martin Brückner Jahrgang 1984
Martin ist Lehrer für Physik und Philosophie an einem Kölner Gymnasium. Neben Trampolinturnen und Leichtathletik machte er seit früher Jugend mit dem Vater Hochtouren in den Westalpen. Verletzungsbedingt fing er im Studium das Sportklettern in Bergstiefeln (bis zum neunten Grad) an und kam über einen Freund zum Eis- und Mixedklettern in Chamonix. Unter anderem machte er in dessen Schlepptau eine Ein-Tages-Begehung der Eiger Nordwand und durchstieg die Matterhorn Nordwand.
Martin ist Mitglied der DAV Sektion Duisburg und gehört zum DAV Alpinkader-NRW.