© Blaueishütte / Oliver Knorre

Fels- und Firnkurs 2021

19.06.2021

Als wir mitten in der Nacht aufstehen und unseren, wie man so schön sagt ‚wohlverdienten Urlaub‘ Richtung Ramsau antreten, frage ich mich nicht zum ersten Mal, warum wir das alles überhaupt tun. Wir kommen mitten aus dem Ruhrpott und haben die Alpen zwar schon gesehen, aber noch nie bergsteigend erlebt. Was wir vor Ort im LAPADU aber schon erleben durften, ist, dass Klettern wie Meditation ist - die Aufmerksamkeit gebündelt, die Gedanken fokussiert, der Alltag vergessen - ;

Klettern ist aber auch der Weg zur Selbsterkenntnis – und auf diesem geht es jetzt, erstmal ziemlich weltlich, Richtung Ratingen, unseren Mitstreiter abzuholen, von dem wir im Vortreffen nur einen kurzen Eindruck gewinnen konnten und der mit uns auf seine ganz eigene Reise geht. Hier treffen sich verschiedene Lebensentwürfe und alle werden in der Bescheidenheit der Berghütte aneinander üben dürfen. Später, als wir kurz vor München auf der wegen eines Unfalls gesperrten Autobahn stehen, kommen mir erneut Fragen, ob dies Steine sind, die uns im Weg liegen und uns dazu anregen sollen nachzudenken, ob er richtig ist. Allerdings verdrängt der Gedanke, dass wir hier noch länger stehen und das Abendessen auf der Hütte verpassen könnten die philosophischen Gedanken schnell. Nicht nur der reibungslose und zeitgerechte Ablauf der Autofahrt ist Voraussetzung für das Abendessen, es wird von uns noch ein mehrstündiger Aufstieg bis zur Blaueishütte und zwar mit Sack und Pack erwartet, den man noch überhaupt nicht in der Lage ist einzuschätzen, auch weil wir geplant haben, die eine oder andere Abkürzung abseits des Normalweges zu gehen. Das ist der Punkt an dem wir zum ersten Mal unsere Not in Kallis Hände legen – unserem Anleiter, den wir im Grund- und Aufbaukurs Alpin bereits kennen- und schätzen lernen durften und der bereits auf der Hütte auf uns wartet und alles bis ins Detail vorbereitet hat. Natürlich nimmt er den Stress aus der Situation, regelt alles, lässt uns Essen zurückstellen, hat bereits das ganze Eisen mit Auto und Seilbahn nach oben bringen lassen, wir sollen nur ruhig machen und entspannt. Das beruhigt. Die Allegorie des Kletterns als Meditation noch in Gedanken erscheint Kalli mir in diesem Moment in einer Art buddhistischen Aura. In dieser Vertrautheit kann man gut dorthin gehen, wohin er uns leitet – tut er dies auch stets mit dem Hinweis, er sei nicht Leiter, sondern Anleiter und würde dafür sorgen wollen, dass wir uns selbst auf den Weg machen. Sagen das nicht nur die größten Lehrer?

Christian hatte angemerkt er sorge sich etwas vor dem Aufstieg. Ich bin da noch entspannt, freue mich nach der langen Fahrt darauf mich bewegen zu können. Wir finden den von Kalli beschriebenen Parkplatz (Holzlagerplatz) leicht, freuen uns schon an den uns umgebenden Bergen, machen uns bereit und treten den Weg an. Nach 250 Metern glaube ich, dass Christian mit seiner Sorge richtig lag. Der Weg führt stetig und steil hinauf, das Gepäck für eine Woche Aufenthalt auf der Hütte ist zwar im guten Rucksack gut zu tragen, die Sonne knallt aber vom Himmel und die Temperatur reicht an 30 Grad Celsius heran. Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer – kommt mir in den Sinn, eines dieser Lieder bei der man im Radio den Sender wechselt. Hier gibt es nichts zu wechseln, der Weg ist kein leichter, ist steinig und schwer. Unser Mitstreiter schreitet augenscheinlich fröhlich voran – Christian bietet an, mir den Rucksack abzunehmen. Ich verneine mehrfach, leide ernsthaft, aber tapfer. Kurz vor den endlosen sich windenden Kehren mit einer Steinstufe nach der anderen sind wir alle müde. Christian geht inzwischen voran, wir sind durchgeschwitzt - am Ende haben wir alle 2 bis 3 Liter Wasser getrunken - und man fragt sich, ob man je oben sein wird. Aber man wird. Plötzlich stehen wir vor der Hütte, ein munterer Kalli erwartet uns voller Lob, aufbauend und mit kaltem Radler. Die beste Belohnung der Welt. Abendbrot und ab ins Bett – wir treffen uns morgen um 6 Uhr zum Frühstücken ist das letzte was ich höre. Der Weg in die alpine Welt versprach ja auch nie ein leichter zu sein, wir sind gespannt. Nach einer Nacht im kargen Vierer-Stockbettzimmer duschen wir, zwei mal 15 Sekunden, das üben wir die Tage über noch, Wasser sparen, so etwas kennt man aus dem Alltag nicht. Leuchtet aber ein. Jetzt beginnt unsere Ausbildung, Gehen im weglosen Gelände kommt uns zunächst befremdlich vor, müssen wir wirklich das Gehen lernen? Später, auf dem schwarzen Wanderweg wissen wir um den Sinn. Wir lernen, nichts was wir lernen in Frage zu stellen, alles hat Bedeutung und wird uns so nahegebracht, als wäre es einfach, hier spricht aus unserem Anleiter die Erfahrung von Jahrzehnten, einfach ist eigentlich nichts. Expertenwissen, Geschenke.

Danach etwas Plattenkletterei – Puh, plötzlich schon ziemlich hoch, aber es fühlt sich gut an, richtig. Zum ersten Mal denke ich, dass man hier genau richtig ist, dass man genau das machen möchte. Dann Standplatzbau, Selbstsichern, Mehrseillängen. Viel Inhalt, viel Praktisches und dann fragt Kalli ob wir Lust haben in die Route ‚Auf die Schnelle‘ einzusteigen. Wir haben alle Lust, aber sind auch unsicher, was uns erwartet. Plötzlich sind wir tatsächlich mitten in unserer ersten Mehrseillänge, müssen all das vorher vermittelte Wissen anwenden, hier ist es ernst, denn schnell liegen viele Meter unter uns und auch wenn die Route wunderbar zu bewältigen ist: es hängt unser Leben davon ab, dass wir alles richtig handhaben und ich merke, dass Kalli nicht nur sagt, dass er uns auf den Weg bringen will, er hat es schon getan. Von der Theorie zur Selbsterfahrung, didaktisch-methodisch brilliant - aber auch grenzerfahrend, puh. Oben steigen wir aus und der (Teil-)Weg vom Steinberg hinab ist ebenfalls spannend. Ein weiteres Licht geht uns auf. Gehen im wegfreien Gelände und taloffenes Abklettern. Aha. Das taloffene Abklettern bzw. Abrutschen wird in der Folgezeit wegen seiner für uns lustigen Begrifflichkeit und Assoziationen zu einem ‚Running Gag‘. Kalli betont immer wieder ernsthaft, dass das eine zu lernende und gängige Praxis ist. Ja, ist es. Wann immer wir sie anwenden albern wir aber doch. Echte Schüler eben. Die weiteren Tage verschwimmen ineinander. Morgens sechs Uhr frühstücken, abends 18.30 Abendessen, dann Bergabend: ein Bier, ein Enzian, viele Geschichten - von denen einige wirklich unglaublich und ergreifend sind, jahrzehnte lange Erfahrung in den Bergen bringt diese Geschichten mit, manches ist aber auch erstaunlich und unfassbar. Man denke an die Erzählungen aus der Moselstraße in Oberschöllnbach, wo einst Albert, Güllich und viele andere ihre Kletter-Wohngemeinschaft lebten und Kalli hat nebenan familiäre Verbindungen, quasi ein Nachbar. Voltaire sagte: „Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache existieren“— nach den Geschichten guter Schlaf.

Weit weg von der Konsumgesellschaft, zwei T-Shirts, das eine den einen Tag, das andere den anderen Tag und alle anderen machen es ebenso, einfach. ‚The more you know, the less you need‘ wird zu unserem Mantra. Hoffentlich können wir es in unseren Alltag mitnehmen. Morgens also sechs Uhr frühstücken, eine Pause gegen mittag wird uns gegönnt, ein Butterbrot oder einen Apfel und dann die nächste Aufgabe. Abseilen vom Abseilfelsen, bei dem uns bewusst wurde, was Steinschlag hier heißt, denn im letzten Jahr ist ein mehrere Kubikmeter großer Felsen oben auf den ungefähr 20m hohen Abseilfelsen ‚gehüpft‘ und sehr präsent - vielleicht auch als Mahnung - liegengeblieben. Dort wo sonst so schön das Seil herlief. Ganz geheuer ist die Sache Kalli auch nicht, aber er analysiert im Gegensatz zu mir die Sache ruhig und sachlich. Seilt dort als erster ab, ich traue mich erst Tage später. Zwischendurch auf die Schärtenspitze, schwarzer Wanderweg, teilweise seilversichert und wir alle merken, dass wir das können. Ich wusste das vor dem Kurs nicht, ob diese unwirtliche Welt der Alpen etwas für mich ist, ob ich Höhenangst habe, die das Bergsteigen verhindern würde. Nein. Es ist ein wunderbares Erlebnis, hinauf, hinauf und dann über den Grat bis zum Gipfelkreuz, den Watzmann in Sicht und wir an diesem Tag ganz alleine auf diesem Weg.

Kalli gibt uns mit seiner Ruhe Sicherheit, fragt immer wieder wie es uns geht, aber wir bewältigen das alles aus eigener Kraft. Und wir lernen, dass Laotsi der sagt ‚Gut geht, wer ohne Spuren geht‘ auch ganz weltlich gelesen werden kann. Wir gehen vorsichtig und ohne andere zu gefährden. Weitsicht. Die Murmeltiere pfeifen uns zu, die Alpenrosen blühen und der Enzian auch. ‚Wer die blaue Blume finden will, der muss ein Wandervogel sein…‘

Am Tag, an dem wir unterhalb des Gletschers üben Klemmkeile und Friends zu legen, ereilt uns abends überraschend ein Gewitter. Wir hatten uns über die sich in die Senke hereindrehenden Wolken etwas ängstlich gewundert und dann geht es schnell. Innerhalb von wenigen Minuten - wir sind mitten in einer Gletscherspalten-Rettungsübung und der imaginär in die Gletscherspalte gefallene wird fiktiv zurückgelassen - ist das Gewitter da. Wir begeben uns unter Kallis Anleitung unter den Felsen, der uns morgens Übungsgelände war, legen in aller Ruhe alles Eisen von uns und setzen uns auf unsere Rucksäcke und beobachten das Schauspiel. Es kommt bei allem Respekt keine Panik auf. Bob Dylan kommt mir in den Sinn: ‚I`ll give you shelter from the storm‘. Und das Gefühl ist wieder da, dass dieses ganze Vorhaben etwas Erhabenes hat, kein Wunder, dass die Kletterlegenden alle eine Aura umgibt, die bis in die Gegenwart spürbar ist und auch kein Wunder, dass Literatur und Musik diese Bilder aufgreifend verarbeitet haben, Maestri stimmt in meine Gedanken ein: ‚Der Alpinismus ist kein Sport, kein Wettkampf, sondern eine Philosophie, eine Lebensform‘. Einen Tag verbringen wir am Gletscher. Dort die lustigsten Geschichten, bei allem Ernst. Wir graben einen Socken ein und rutschen als Eisenbahn den Gletscher hinunter. Aber dahinter stehen unfassbar viele Lerninhalte, die uns im Ernstfall weiterhelfen können und Ernstfall ist eigentlich in dieser Gegend immer. Sensibel sind wir dafür geworden. Jeder Schritt zählt und trotzdem kann man 35 Grad - ich glaube auch mehr - im Firn nun auch mehr entspannt gehen. Der Alltag ist weit weg, Erholung aber auch. Dies ist ein Lehrweg und unser Lehrer ist ein strenger, weil er uns auf die Reise schicken will. Am Ende, als wir gemeinsam im Tal beim ansässigen Bäcker frühstücken bevor sich unsere Wege zumindest vorübergehend trennen, bleibt mir besonders ein Satz von Kalli im Gedächtnis. Wir dürfen die Berge nicht vergewaltigen. Wir begegnen ihnen mit Respekt und Achtung. ‚Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler‘ hat Goethe gesagt. Kalli sagt auch solche Dinge und gibt sie uns mit. Ein solcher Lehrer, mitten aus dem Ruhrpott, unermüdlich, unverzichtbar, unbezahlbar! Danke…