Wir brechen in südöstlicher Richtung auf, der Weg Nr. 417 führt uns über das Jungfrauenbrünnl hin bis zum Gipfelkreuz des Salzburger Hochthrons (1853 m). Unsere Wandergruppe besteht aus vier Gefährten: William, Scott, Sophia und mir (Markus) – zwei Hunde und zwei Menschen. William und Scott sind Brüder, 11 und 12 Jahre alt und gehören zur Rasse Bolonka Zwetna, einer Bichonart. Sie sind froh, ihre Maulkörbe, die jeder der beiden Hunde aus Sicherheitsgründen während der Liftfahrt tragen muss, wieder los zu sein. Die Hunde sind weit - wandererfahren, haben u. a. bereits den über 300 km langen Eifelsteig sowie den Ahrsteig erobert und sind mit uns in verschiedenen Teilen der Alpen unterwegs gewesen.
Als Hundebesitzer und leidenschaftliche Bergwanderer wissen wir aus Erfahrung, dass es selten die Möglichkeit gibt, mit Hunden auf AV-Hütten zu übernachten. Zufällig finden wir auf der Homepage des Stöhrhauses im vergangenen Winter die Information, dass die Hütte nach umfangreichen Erweiterungsarbeiten ab der Sommersaison 2019 zwei Zweibettzimmer mit der Möglichkeit zur Übernachtung mit Hunden an - bietet. Nachdem wir recherchiert haben, dass unser geplanter Hüttenzustieg auch für unsere Hunde gangbar ist, buchen wir ein Zimmer für eine Nacht.
Der Untersberg ist ein ca. 70 km 2 großes Bergmassiv in den Berchtesgadener Alpen, halb in Bayern, halb im Salzburger Land gelegen. Aufgrund der Jahrtausende lang anhaltenden Kohlensäureverwitterung des Kalkgesteins fand eine starke Verkarstung statt, sodass heute über 400 Karsthöhlen auf bzw. im Untersberg existieren. Teilweise sind diese frei zugänglich. Bekanntheit erfuhr der Berg im Jahr 2014 durch ein europaweites Medienecho, als ein verletzter Höhlenforscher nach zwölf Tagen lebend aus der Riesending-Höhle gerettet werden konnte. Zwei Hauptgipfel prägen den Untersberg, der Salzburger Hochthron (1853 m) auf der österreichischen und der Berchtesgadener Hochthron (1972 m) auf der deutschen Seite.
Unser nächstes Zwischenziel ist die Höhle „Steinerer Kaser“, die leicht zugänglich und sicher begehbar ist. Sie liegt am Fuße der Mittagsscharte. Wir erreichen die Scharte und steigen steil bergab. Neben dem Höhleneingang befindet sich eine ehemalige, heute verschlossene Zollhütte. Im Schatten der Hütte gönnen wir uns eine Brotzeit. Wenn wir uns schon in der Mittagsscharte befinden, bietet sich eine Mittagspause förmlich an.
Als wir nach der Pause das Innere der Höhe betreten und unsere Stirnlampen einschalten, genießen wir die Kühle im Berginneren. Wir finden sogar eine Stelle, wo das Tropfwasser von der Decke aufgefangen wird und können unsere Wasservorräte auffüllen. William und Scott lassen sich das kristallklare Wasser schmecken. Nach der Höhlenerkundung steigen wir auf der Gegenseite wieder im Steilanstieg hinauf auf die Untersberg Hochfläche und wandern weiter Richtung Stöhrhaus. Das Bergplateau ist großflächig mit niedrig wachsenden Latschenkiefern bedeckt, deren Wuchshöhe oft nur bis zu unseren Schultern reichte. Unsere Hunde nutzen gerne beim Wandern den Schatten der Bergkiefern aus. Nach etwa 5 3/4 Stunden Bruttogehzeit erreichen wir am Nachmittag das Stöhrhaus.
Das Stöhrhaus (1894 m) der Sektion Berchtesgadener Land wurde 1901 eröffnet und trägt den Namen eines Textilunternehmers, der damals mit großzügigen Geldspenden den Bau mitfinanziert hat. Walburga und Hans Gschoßmann sind die aktuellen Pächter, die uns u. a. mit hausgemachten Kaspressknödeln verwöhnen, die niemals besser schmecken als auf AV-Hütten nach einem langen Bergwandertag. Nach dem Abendessen steigen wir auf den nahen Gipfel des Berchtesgadener Hochthrons (1972 m), um dort den Sonnenuntergang zu beobachten. Hier ist es vollkommen windstill und wolkenlos. Der Halbmond ist bereits aufgegangen. Richtung Süden blickend „grüßt“ die dunkle Silhouette des Watzmanns herüber, das langgezogene Wimbachgriestal liegt vor uns und man kann sogar einen kleinen Teil der jetzt schwarzen Wasseroberfläche des Königsees erblicken. Das Farbspektakel am Himmel deckt alle Schattierungen von hellgelb, orange, rot, dunkelblau bis fast schwarz ab. Wir sind begeistert.
Die Aussicht beindruckt unsere Hunde allerdings nicht, stattdessen interessieren sie sich sehr für die Gerüche, die sie wittern, vermutlich nehmen sie Gamsspuren wahr. Zurück in unserem Zimmer angekommen fallen wir „hundemüde“ ins Bett und Körbchen.
Am nächsten Morgen stehen wir allein gegen 8.00 Uhr vor der Hütte und machen uns abmarschbereit. Der Rückweg soll auf gleichem Weg wie der Hinweg erfolgen. Während wir uns die Schuhe anziehen, erreicht ein drahtiger, vollbärtiger Einzelwanderer zügigen Schrittes und schweißnass die Hütte. Sein Gesicht kommt uns bekannt vor. Als er dann sein feuchtes T-Shirt wechselt und für einen kurzen Moment sein freier Oberkörper zum Vorschein kommt, zeigt sich eine großflächige Tätowierung. Jetzt sind wir uns sicher, wer da vor uns steht: Thomas Huber, der ältere Bruder von Alexander, einer der beiden extrembergsteigenden „Huberbuam“. Ich sehe ihn an und gehe langsam auf ihn zu. Er sieht mich ebenfalls an und je näher ich auf ihn zugehe, desto genervter, so schien es mir, wurde sein Gesichtsausdruck. Vermutlich erwartet er, dass ich ihn um ein Autogramm oder ein Selfie bitten würde. Ich begrüße ihn und frage, ob es bei guter Sicht so wie am Vortag möglich sei, vom Gipfel aus Richtung Osten blickend das Dachsteinmassiv sehen zu können. Kaum war die Frage gestellt, da hellt sich Thomas` Gesichtsausdruck merklich auf, denn diese Frage hatte er wohl nicht erwartet. Er bestätigt mir meine Vermutung, dass es sich tatsächlich um den Gipfel des Dachsteins handelt und er erklärte mir noch weitere Gipfel. Nach einem kurzen Gespräch wünschen wir uns gegenseitig einen schönen Bergtag. Er geht zum Frühstücken in die Hütte und wir beginnen unsere Wanderung zurück über den Untersberg hin zur Bergstation auf dem Geiereck.